C. Opitz-Belakhal: Montesquieus politische Anthropologie

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Titel
Im Reich der Leidenschaften. Montesquieus politische Anthropologie


Autor(en)
Opitz-Belakhal, Claudia
Erschienen
Frankfurt am Main 2021: Campus Verlag
Anzahl Seiten
215 S.
von
Simone Zurbuchen

Die vorliegende Studie bietet einen umfassenden Einblick in die Rolle, die Montesquieu Emotionen, Affekten, Leidenschaften und Gefühlen im häuslichen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenleben der Menschen und Völker zuschreibt. Die Autorin geht dabei von Montesquieus Hauptwerk Vom Geist der Gesetze aus, dessen Entstehung, Fragestellung und Methode sie im ersten Kapitel erläutert. Hier führt sie den Begriff des «esprit général» ein, mit dem Montesquieu den Charakter der Völker oder Nationen und damit die Vielfalt der Formen menschlichen Zusammenlebens zu erfassen versuchte, die er auf seinen Reisen durch Europa, anhand der Lektüre von Reiseberichten sowie in seinen vergleichenden Studien zu den politischen Systemen Nord- und Südeuropas studiert hatte. Ausgehend von der These, dass der «esprit général» der Nationen aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren wie Klima, Religion, Regierungsform, Gesetze, Sitten und Gebräuchen resultiere, versuchte er in seinem Hauptwerk die Gesetze vor dem Hintergrund natürlicher, kultureller, politischer und religiöser Einflüsse zu erfassen und zueinander in Beziehung zu setzen (S. 37 f.).

Der erste zu berücksichtigende Faktor ist die jeweilige Regierungsform. Die Theorie der Regierungsformen (Kap. 2) ist von zentraler Bedeutung für das Thema des Buches, da Montesquieu diese nicht nur nach ihrer Natur oder je eigenen Struktur analysiert, sondern auch nach ihrem jeweiligen Prinzip, das in den menschlichen Leidenschaften liegt, die den «Motor des politischen Lebens» ausmachen (S. 46). Der Zusammenhalt in der Republik beruht auf Vaterlandsliebe oder Mässigung, jener in der Monarchie auf dem Streben nach Ehre, während die Despotie auf der Furcht beruht. Die den Regierungsformen zugehörigen Leidenschaften spielen eine wichtige Rolle, wenn es um die Frage geht, welche Gesetze einem Volk jeweils angemessen und vom Gesetzgeber zu berücksichtigen sind. Dieser hat jedoch auch auf die je nach klimatischen, geographischen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen unterschiedlich ausgeprägten Verhältnisse der Geschlechter zu achten, die das häusliche und gesellschaftliche Leben prägen und ebenfalls

vom Spiel der Gefühle und Leidenschaften bestimmt sind (Kap. 2.3). Da Claudia Opitz-Belakhal als ausgewiesene Spezialistin der frühneuzeitlichen «querelle des femmes» bekannt ist, erstaunt es nicht, dass sie in den folgenden Kapiteln der Differenz der Geschlechter, deren Beziehungen zueinander (Ehe, Polygamie, Inzest) sowie den diese regulierenden Leidenschaften und Affekten (Erotik und Sexualität, Scham, Eifersucht) besondere Aufmerksamkeit schenkt. Dabei greift sie auch immer wieder auf die Perserbriefe zurück, die sie schon in früheren Arbeiten untersucht hatte. Sie zeigt aber auch, wie dort verhandelte Themen (so die Sklaverei der Frauen im Harem in ihrem Zusammenhang mit der Regierungsform der Despotie) im Geist der Gesetze aufgenommen und zum Teil aus neuer Perspektive beleuchtet werden (Kap. 4–6). Darüber hinaus beschäftigt sie sich auch mit Fragen, die erst im Geist der Gesetze zentrale Bedeutung erlangen, so etwa die nach der Rolle von Leidenschaften wie Luxusliebe, Geiz und Gewinnsucht, welche die Entfaltung von Handel und Wohlstand begünstigen und je nach politischer Verfassung der Staaten zu einem Ausgleich zwischen Armen und Reichen innerhalb oder zwischen den Nationen führen, diese aber auch in ihrer Stabilität gefährden können (Kap. 3). Dazu gehört aber auch Montesquieus Klimatheorie (Kap. 7), welche die Grundlage seiner Analyse der «orientalischen Despotie» bildet und in der Gegenüberstellung der «Knechtschaft Asiens» und der «Freiheit Europas» gipfelt (S. 176). Die Autorin unterzieht die Theorie der orientalischen Despotie einer eingehenden Analyse (Kap. 7.4) und konstatiert, dass Montesquieu die Despotie, die er in den Perserbriefen noch als Bezugspunkt für die Kritik am Absolutismus der französischen Monarchie in Stellung brachte, im Geist der Gesetze auf der Grundlage seiner Klimatheorie gewissermassen «re-orientalisiert» habe (S. 179).

Die vorliegende Arbeit überzeugt durch ihre quellennahe Darstellung ebenso wie durch die Analyse der Positionen Montesquieus im weiteren Kontext der französischen Aufklärung oder – wie im Fall der Despotie – der Geschichte der politischen Philosophie. Zusammen mit dem Anhang zu den Reiseberichten und der ethnographischen Literatur, die Montesquieu zitiert, lässt sich Opitz-Belakhals Studie als Einführung in eine neue und originelle Lektüre von Montesquieus Werk empfehlen. Bedauerlich ist nur, dass das Buch schlecht lektoriert ist und viele Druckfehler stehen geblieben sind. Grundsätzlichere Fragen wirft dagegen die Anknüpfung an die neuere Forschungsrichtung auf, die sich mit der Geschichte der Gefühle befasst. So kann nach der Lektüre der vorliegenden Studie zwar kein Zweifel daran bestehen, dass Montesquieu Gefühlen und Leidenschaften für das Zusammenleben der Menschen in verschiedenen Räumen und Zeiten eine wichtige Funktion zumisst und diese auch in ihren positiven wie negativen Auswirkungen beschreibt; heisst das aber, dass wir durch Montesquieus eigene Beobachtungen oder jenen, auf die er sich seinerseits beruft, etwas über die Triebe, Affekte und Leidenschaften erfahren, die Menschen tatsächlich antrieben? Zieht man die doch eher spekulativen und im Übrigen schwer zu deutenden Überlegungen Montesquieus zu den affektiven Grundlagen der menschlichen Gesellschaften in Betracht, welche die Autorin zu Beginn ihrer Studie bespricht und als «politische Anthropologie» charakterisiert (Kap. 1.3, 2.1), ist man wohl eher geneigt, Montesquieus Werk etwa zusammen mit dem jenigen der Philosophen Descartes, Hume oder Smith als Teil einer Geschichte der Theorie der Gefühle in der Frühen Neuzeit zu betrachten.

Zitierweise:
Zurbuchen, Simone: Rezension zu: Opitz-Belakhal, Claudia: Im Reich der Leidenschaften. Montesquieus politische Anthropologie, Frankfurt am Main / New York: Campus, 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 296-298. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.

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